Caren Lay, Stefan Liebich und
Halina Wawzyniak vom Forum Demokratischer Sozialismus haben
endlich konkrete Vorschläge zum Europawahlprogramm 2009
unterbreitet. Ihr Aufruf »Es könnte so vieles besser sein –
auch in der EU« sah lediglich ein abstraktes Bekenntnis zur
Europäischen Union vor und provozierte daher die Kritik
zahlreicher europapolitischer Akteure. Diese Kritik war ein
Fehler: Die Anträge beschädigen die europapolitische
Substanz der Linken mehr als die ursprüngliche Drohung ihres
Aufrufs. Lay, Liebich und Wawzyniak vergleichen die
Bedeutung der Europawahlen 2009 mit den Volksabstimmungen
über die Verfassungsentwürfe in Frankreich, den Niederlanden
und Irland. (...)
Demokratische Sozialist/innen verschweigen, daß das
Europäische Parlament trotz erweiterter
Mitentscheidungsbefugnisse kein Recht auf Gesetzesinitiative
kennt. Sie meinen die Wahl eines kastrierten Parlaments sei
eine Volksabstimmung. Damit entsorgen sie auch eine zentrale
Kritik der europäischen Linken am Vertrag von Lissabon.
Die Bereitschaft Oskar Lafontaines, eine neue Linke in
Deutschland zu begründen, hatte im französischen »Non« zur
EU-Verfassung ihren Ursprung. In Frankreich bezieht sich
eine neue Partei, die »Parti de Gauche«, auf diese
Sternstunde der europäischen Demokratie. Der Vertrag von
Lissabon, die globale Wirtschafts- und Finanzkrise und die
EU als Kriegspartei sind siamesische Zwillinge. Der freie
Kapitalverkehr hat Gesetzescharakter. Doch die drei Autoren
möchten Wahlkampf mit Sätzen wie diesen führen: »Der Vertrag
von Lissabon war aus Sicht der Linken in all seiner
Ambivalenz im Rahmen einer Gesamtabwägung wie zuvor der
EU-Verfassungsvertrag für einen (solchen) Politikwechsel
nicht geeignet, …«.
Aber Lay, Liebich und Wawzyniak unterlaufen auch schwere
handwerkliche Fehler. So wollen sie ins Wahlprogramm
schreiben: »Auch wenn in Artikel 3 des Lissabon-Vertrages
die ›soziale Marktwirtschaft‹ mit Verfassungsrang
festgeschrieben wurde, hat dies nicht zu einer anderen
Politik geführt – wohl auch deshalb, weil Artikel 119 zuviel
Interpretationsspielräume ließ.« Vielleicht sollten wir
zukünftig parallel zu Wahlprogrammen juristische Handbücher
verteilen. Dann würde auch schnell deutlich, daß Artikel 3
nicht die soziale Marktwirtschaft in Verfassungsrang hebt
und Artikel 119 keine Interpretationsspielräume zuläßt.
Denn der Vertrag spricht in Artikel 3 von einer im hohen
Maße »wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft«.
Er regelt in Artikel 119 den absoluten Vorrang des
»Grundsatzes einer offenen Marktwirtschaft mit freiem
Wettbewerb« und den international unüblichen Vorrang der
Preisstabilität vor Wachstum und Beschäftigung.
Das ist »Monetarismus per Gesetz«. Stabile Preise werden
nicht durch produktivitätsorientierte Lohnabschlüsse und
eine europäische Kartellbehörde, sondern durch
Arbeitslosigkeit, garantiert. (...)
Soziale Marktwirtschaft (...) ist im Unterschied zur
wirtschaftspolitisch neutralen Sozialstaatlichkeit und der
im Vertrag verankerten Rechtsstaatlichkeit ein völlig
unbestimmter Rechtsbegriff. Nicht umsonst benennt sich eine
neoliberale Initiative danach, und haben weniger
exportorientierte Länder wie Frankreich eine solche
vertragliche Definition bereits bei der Gründung der
Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft abgelehnt. Eine aktive
Wirtschaftspolitik mit den klassischen Instrumenten von
Geldpolitik und öffentlichen Investitionen war in diesem
Konzept nie vorgesehen. Soziale Marktwirtschaft unter
Vorbehalt der Wettbewerbsfähigkeit zu stellen ist aber so,
wie als würde man den Rechtsstaat in den Grenzen des
Antiterrorkampfes garantieren.
Natürlich darf auch der Verweis auf die Grundrechtecharta
nicht fehlen: »Es gab durchaus auch Begrüßenswertes im
Vertrag von Lissabon, so die Erweiterung der
Mitentscheidungsrechte des Europäischen Parlaments, die
Erklärung der Rechtsverbindlichkeit der Grundrechtecharta
und die Möglichkeit für EU-weite Bürgerinitiativen.« Die
Grundrechtecharta ist eine feine Sache. Leider vergessen die
Apostel einer linken Bürgerrechtspartei aber, daß der harte
Kern der Grundrechtecharta mit der durch alle EU-
Mitgliedsstaaten ratifizierten Europäischen
Menschenrechtskonvention (EMRK) bereits seit Jahrzehnten
rechtsverbindlich ist. Die Charta kennt zudem keinen
individuellen Klageweg. Erneut
ignorieren sie die Unteilbarkeit politischer und sozialer
Freiheiten: So lautet die Schlußbestimmung der
Charta in Artikel 52 (2): »Die Ausübung der durch diese
Charta anerkannten Rechte, die in den Gemeinschaftsverträgen
oder im Vertrag über die Europäische Union begründet sind,
erfolgt im Rahmen der darin festgelegten Bedingungen und
Grenzen.«
Dies sah auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) in seinen
Urteilen Viking, Laval und Rüffert so: Streikende finnische
und schwedische Gewerkschaften wollten erreichen, daß
estnische und lettische Arbeiter in Finnland und Schweden
auch finnische und schwedische Löhne erhalten, nicht
umgekehrt. Der EuGH wertete das politische Grundrecht des
Streiks und die Tarifautonomie als Beeinträchtigung der
EG-Binnenmarktfreiheiten. Eine Einschränkung dieser
Freiheiten zu Gunsten entsandter Arbeitnehmer/innen sei
höchstens durch allgemeinverbindliche Tarifverträge oder
gesetzliche Mindestlöhne möglich.
Mit anderen Worten: Mindestlöhne sind jetzt Höchstlöhne des
Binnenmarktes.
Wer aber glaubt, mit dieser Lyrik lassen sich die
Europawahlen 2009 nicht verlieren, folge dem Beispiel der
drei und schreibe zur Wirtschafts- und Finanzkrise keinen
einzigen Satz!
Quelle: http://www.jungewelt.de/2008/12-17/052.php