20.12.2010 / Thema / Seite 10

Verschärfte Dauerkrise

Hintergrund: Die weltweiten wirtschaftlichen und finanzpolitischen Verwerfungen treffen in Osteuropa auf marode Sozialsysteme

Von Csilla Medve
 

Die osteuropäischen Volkswirtschaften leiden besonders unter der Finanz-
und Wirtschaftskrise (Bettler vor einem geschlossenen Geschäft in Budapest,
März 2009)
 
Kritische Analysen der seit mehr als zwei Jahren andauernden Wirtschafts- und Finanzkrise konstatieren zwar, daß diese Krise in einem System ungleicher internationaler Entwicklung stattfindet. Dennoch zeichnen sich die entsprechenden Debatten in hohem Maße dadurch aus, daß sie im Grunde, auch wenn dies nicht immer direkt ausgesprochen wird, die Zentren der Weltwirtschaft in den Blick nehmen. Thema sind etwa die Faustschläge der Krisenbewältigung in den wichtigen Industrieländern oder die zeitlich verzögert einsetzende Abwälzung der Krisenlasten auf die Bevölkerung. Dabei geht man stillschweigend davon aus, daß außerhalb der Zentren der kapitalistischen Weltwirtschaft vergleichbare Vorgänge zu beobachten sind. Thema ist schließlich auch der mögliche Aufstieg von Schwellenländern im globalen System im Gefolge der Krise. Wie die Krise selbst an den europäischen und globalen Peripherien aussieht, welche sozioökonomischen und politischen Dynamiken sie in diesen Weltregionen auslöst, welche Strategien zu ihrer Bewältigung hier erprobt werden, findet dagegen kaum Aufmerksamkeit. Ähnliches gilt für die Frage, welche Rolle die Zentren für die Krisenentwicklung und -dynamik an den Peripherien spielen. Nur wenn umgekehrt die Krise bzw. die peripherialisierte Krise, wie im Fall Griechenlands, die Zentren oder das System als solches bedroht, machten sich dort Krisentheorie und Krisenpolitik echte Sorgen.

Ein Wechsel der Blickrichtung ist daher angesagt. Indem wir die Auswirkungen der Krise in den benachteiligten Weltregionen, so zum Beispiel ihre sozialen Folgen und die sozialpolitischen Reaktionen auf die Krise in Osteuropa, beleuchten, lernen wir Neues nicht nur über diesen untergeordneten Teil unseres Kontinents. Wir müssen auch erkennen, daß unser Verständnis der Krise in den Zentren Europas ein teilweises und teilweise verzerrtes bleibt, solange wir den Perspektivenwechsel, der der Peripherie theoretische und politische Gleichrangigkeit einräumt, nicht vollziehen.

Zerstörung der Sozialsysteme …

In Osteuropa stellt sich die Epoche seit der »Wende« von 1989/1991 ungeachtet der zum Teil krassen Unterschiede der verschiedenen ehemals »staatssozialistischen« Länder untereinander stärker als in Westeuropa als soziale und sozialpolitische Dauerkrise dar. Die Grundlagen dafür wurden, nachdem bereits die 1980er Jahre von deutlichen Krisensymptomen geprägt gewesen waren, in den ersten Jahren nach der »Wende« gelegt. Aus sozialpolitischer Sicht leitete diese einen in hohem Maße regionsspezifischen Strukturbruch ein. Die in diesem Rahmen geschaffenen sozialpolitischen Strukturen sind durchaus geeignet, die Länder des Ostens ganz im Sinne der Herrschenden in Ost und West durch die Krise zu tragen.

Die staatssozialistischen Wohlfahrtssysteme unterschieden sich grundlegend von der westlichen Sozialpolitik. Vollbeschäftigung einschließlich des berüchtigten Arbeitszwanges war Voraussetzung »staatssozialistischer« Sozialpolitik und gleichsam unsichtbar in deren Konstruktionsprinzipien eingebaut. Zahlreiche Sozialleistungen waren unmittelbar an das Beschäftigungsverhältnis gekoppelt. Hinzu kamen Politikmuster, die nicht als Wohlfahrtspolitik in Erscheinung traten und direkt in das makroökonomische Planungs- und Steuerungssystem eingebaut waren. So wurden etwa Grundnahrungsmittel systematisch subventioniert und Luxusartikel verteuert, um auf diese Weise in wohlfahrtspolitischer Absicht Ressourcen zugunsten der Mehrheitsbevölkerung umzuverteilen. Der »Systemwechsel« in Osteuropa, der auch als dominante Form der Bewältigung der Krise der 1980er Jahre bezeichnet werden kann, zielte in hohem Maße auf die Abschaffung dieses Wohlfahrtssystems.

Dies ging auf drei Ebenen vor sich. Erstens war ein massiver Substanzverlust des alten Sozialsystems zu beobachten, der nicht durch die Zerstörung von dessen institutionellen Strukturen und gesetzlichen Fundamenten, sondern dadurch zustande kam, daß die ökonomischen Grundlagen des Systems dahinschwanden. Die Ankunft der Arbeitslosigkeit und die beginnende Privatisierung der Staatsbetriebe schnitten viele Menschen vom Zugang zu den alten, arbeitsplatzbezogenen Sozial­leistungen ab. Bei der Hyperinflation handelte es sich – aus sozialpolitischer Sicht - um eine für Westeuropa bis heute unvorstellbare, massive Entwertung vieler existierender Sozialleistungen, denn der Nominalwert der pro Monat ausgezahlten Familienbeihilfen und sonstigen sozialen Leistungen wurde weitgehend stabil gehalten. Zweitens machten sich die neuen Herren der osteuropäischen Länder mit Unterstützung ihrer westeuropäischen Gefährten daran, ein der Form nach westliches, staatliches sozialpolitisches Institutionensystem aufzubauen. Doch die Leistungen der neuen Institutionen waren, so zum Beispiel bei der Arbeitslosenversicherung, selbstverständlich von vornherein an das problematisch niedrige Lohnniveau angepaßt, und sie durchliefen gemeinsam mit den Löhnen selbst einen weiteren ständigen Entwertungsprozeß. Noch rudimentärer sind die Grundsicherungssysteme des sogenannten zweiten sozialen Netzes. In Ungarn und Rußland erreichen die Beihilfen vergleichsweise viele Betroffene, aber die Leistungen sind sehr niedrig. Das bulgarische System darf als wohlfahrtspolitisch irrelevant bezeichnet werden, weil die Beihilfen minimal und höchst selektiv sind. In Rumänien wurde 2006 eine Regelung eingeführt, nach der die lokalen Behörden an einem gut sichtbaren Ort eine Liste der Sozialhilfeempfänger einschließlich des Zeitplans für deren gemeinnützige Arbeit aufzuhängen haben.

Drittens schließlich wurde die teilweise Privatisierung von sozialer Sicherung, ihre marktförmige Umgestaltung, wesentlich massiver als in den euro­päischen Zentren vorangetrieben. So betragen die privaten Zuzahlungen zu Gesundheitsdiensten und -leistungen in Lettland mittlerweile 39, in Rumänien 35 und in Ungarn 22 Prozent des Gesamtvolumens, in Großbritannien dagegen nur zwölf Prozent. Den wohl wichtigsten Bereich stellte jedoch die Alterssicherung dar. Zwischen 1998 und 2004 vollzogen 14 osteuropäische und postsowjetische Länder unter massiver Einflußnahme der Weltbank eine zumeist teilweise Privatisierung ihrer Rentensysteme. Oft wurde dabei ein sogenanntes Mehrsäulensystem eingeführt, in dem neben die verpflichtende staatliche und eine freiwillige private eine verpflichtende private Säule trat.

… im Interesse des Finanzkapitals

Diese sogenannten Reformen bedienten in erster Linie finanzkapitalistische Interessen, denen es um die privatwirtschaftlich gesteuerte Verwertung der Pensionsbeiträge am Kapitalmarkt zu tun war. Die Sozialpolitik wurde dem Finanzkapitalismus einverleibt. Diese Zwangsteilprivatisierung der Alterssicherung wälzt das Risiko der Investition am Kapitalmarkt auf die ordentlichen Versicherten ab. Die Verantwortung für die sogenannten Altrentner und für Risikogruppen unter den zukünftigen Rentnern wird dagegen weitgehend dem Staat aufgehalst. Denn ein stetig wachsender Anteil der Beitragseinnahmen fließt den verpflichtenden privaten Rentenfonds zu, in welche die jüngeren Erwerbstätigen durchgehend eintreten müssen. Zudem ist die staatliche Säule, so zum Beispiel in Ungarn, für all jene zuständig, die sich während ihres Arbeitslebens nicht genügend Ansprüche erwerben konnten. Außerdem kommen ihr gewisse Garantiefunktionen gegenüber den Unwägbarkeiten der Anlageentwicklung auf seiten der verpflichtenden privaten Säule zu. Die meisten Länder setzten die Rentenreform also so um, daß sie auf mittlere Sicht massive Löcher in die verbleibenden, nach dem Umlagesystem finanzierten staatlichen Rentenkassen reißen muß. Die Aushungerung der osteuropäischen Pensionssysteme auf Kosten des Staates und zugunsten der Kapitalmärkte wurde auf eine in Westeuropa weitgehend unbekannte Art auf die Spitze getrieben.

Im Ergebnis von alledem finden wir heute in Osteuropa Sozialsysteme vor, die der Form nach in mancher Hinsicht den westeuropäischen Systemen gleichen, ihres materiellen Gehaltes aber zum guten Teil und in manchen Ländern weitgehend beraubt sind. Soziale Desintegration verbindet sich dabei mit nachteiliger internationaler Integration.

Brutaler Absturz …

Auf diese Situation traf dann die Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008. Stellte sich die Lage schon zu diesem Zeitpunkt weitaus nachteiliger dar als in Westeuropa, so sind seitdem in vieler Hinsicht weitere Verschlechterungen zu verzeichnen. Ein besonders extremes Beispiel für sozialpolitisch relevanten Absturz ist Litauen. Zwischen Ende 2007 und Juli 2009 stieg die Zahl der registrierten Arbeitslosen von 52321 auf 132000 Personen an. Dies war begleitet von einem deutlichen Verfall der Reallöhne. Vergleichende Daten aus den Jahren 2007 bis 2010 verdeutlichen die Dimensionen von Dauerkrise und neuer Krise. So lag nach offiziellen Angaben der EU-Statistik der durchschnittliche Jahresverdienst im Industrie- und Dienstleistungssektor in Tschechien 2007 bei 8284, in Bulgarien bei 2626 Euro. In den alten EU-Ländern liegt der Vergleichswert, von den ärmsten unter ihnen abgesehen, zwischen rund 35000 und 50000 Euro. Der Mindestmonatslohn in der Slowakei beträgt 296 Euro brutto, in Ungarn kommt eine alleinstehende, den Mindestlohn beziehende Person netto auf etwa 170 Euro. Bedenkt man, daß sich die Höhe vieler Sozialleistungen direkt aus der jeweiligen Einkommenshöhe ergibt, wird die brutale soziale Spaltung Europas schon an dieser Stelle offenbar. Mißt man die Armutsgefährdung nicht wie in der EU-Statistik üblich am Verhältnis zu den mittleren Einkommen, sondern am realen materiellen Mangel, treten erschreckende Zahlen zutage. Der Anteil der Armutsgefährdeten an der Bevölkerung schnellte im Zuge der neuen Krise rasant nach oben, er liegt in Bulgarien und Rumänien bei mittlerweile über 50, in Ungarn bei 41 Prozent der Bevölkerung. Derselbe Indikator lag 2008 in der alten EU, einschließlich der dazugehörigen Armenhäuser wie Griechenland oder Portugal, bei durchschnittlich 12,5, in den 12 neuen EU-Staaten dagegen bei 35,3 Prozent. Die Pro-Kopf-Gesamtausgaben für soziale Versorgung waren, ohne Verwaltungskosten und unter Berücksichtigung der Kaufkraft der jeweiligen Beträge, in Ungarn um 55 Prozent niedriger als in Deutschland, in Rumänien waren sie 62 Prozent niedriger als in Ungarn. Die Lebenserwartung der ungarischen Männer liegt bei durchschnittlich 69, für Frauen bei 78 Jahren, gegenüber 77 bzw. 83 Jahren im benachbarten Österreich. Die Lebenserwartung der Roma und Romni in Ungarn liegt um 10 Jahre niedriger als die der übrigen Ungarn und Ungarinnen.

… und ungleiche Beziehungen

Daß der soziale Absturz im Zeichen der Krise in Osteuropa im Vergleich zu Westeuropa brutaler ausfällt, ist zum Teil dem vergleichsweise stärkeren wirtschaftlichen Niedergang dieser Ländergruppe und der stärkeren Einbindung ihrer Sozialsysteme in die internationalen Kapitalmärkte geschuldet. Hinzu kommen Faktoren, die direkt mit den ungleichen sozioökonomischen Beziehungen innerhalb Europas zusammenhängen. Soziale Kosten der gesamteuropäischen wirtschaftlichen Entwicklung wurden schon des längeren in überproportionalem Maße den osteuropäischen Ländern aufgebürdet. Nun kommt der Export von Folgekosten der neuen Krise nach Osteuropa hinzu. Ein wichtiges Beispiel ist die Arbeitskräftemigration innerhalb Europas. Der Exodus arbeitsfähiger Personen aus Osteuropa ging und geht mit einer Schrumpfung der Bevölkerungen im arbeitsfähigen Alter in den östlichen Ländern einher. Dadurch erhöht sich beispielsweise der Druck auf deren Rentensysteme. Lebten 2001 300000 Rumänen als Zuwanderer im EU-Ausland, so waren es 2009 bereits 1,9 Millionen. In vielen westeuropäischen Ländern trägt die Zuwanderung umgekehrt massiv zur Verjüngung des Durchschnittsalters der Bevölkerung bei. Die Zuwanderer leisten überproportionale Beiträge zu den westlichen Sozialsystemen und tragen zugleich als Billigarbeitskräfte in Gesundheitswesen und Altenpflege zur Verringerung sozialer Ausgaben bei. Auf die Krise seit 2008 folgte dann eine beträchtliche Rückwanderungswelle. Diese entlastet die Sozialbudgets im Westen, da die betroffenen arbeitslosen Arbeitskräfte einfach verschwinden und nicht unterstützt werden müssen. Im Osten führt die Rückwanderung zu einer Verschärfung der Arbeitslosigkeit und der sozialen Krise.

Ein weiteres Beispiel für die Zuspitzung der ungleichen Verteilung sozialer Lasten in Europa ist die Immobilienkreditkrise. Was als Liberalisierung und Internationalisierung des Privatkreditwesens, getragen von westlichen Banken und ihren Filialen im Osten, begann, stürzt die Betroffenen, mit dem Verfall der Landeswährungen gegenüber dem Euro, nun in eine existenzbedrohende Schuldenfalle. Von den zehn Millionen Ungarn waren im Juni dieses Jahres 850000 Personen auf einer offiziell geführten Liste verzeichnet, in der jene registriert werden, die mit der Rückzahlung von einem oder mehreren Krediten um mindestens drei Monate im Rückstand sind bzw. gar nicht mehr zahlen können. Dies entspricht einer Steigerung um 54 Prozent gegenüber Juni 2008.

Forcierter Sozialabbau

Den osteuropäischen Ländern stehen wesentlich weniger Möglichkeiten zur Verfügung, die neue Krise mithilfe spezifischer Instrumente der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, wie sie im Westen seit 2008 zum Einsatz kamen, abzufedern. In einigen westlichen Ländern wurden beträchtliche Summen allein in direkt haushaltsbezogene Sonderkrisenmaßnahmen investiert. Finnland und Österreich als Spitzenreiter investierten in diesen Sektor je 2,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, während diese Rate in einer ganzen Reihe von osteuropäischen Ländern bei (oder unter) 0,1 Prozent lag.

Demgegenüber sahen sich die osteuropäischen Staaten durchgängig zu Reaktionen auf die neue Krise veranlaßt, die nur als extreme Form der seit nunmehr 20 Jahren in Osteuropa betriebenen Wohlfahrtspolitik, nämlich als forcierter Sozialabbau auf unterstem Niveau, bezeichnet werden kann. In Lettland beträgt seit Mitte 2009 die allgemeine monatliche Kinderbeihilfe nunmehr sechs Euro pro Kind, die Krankenunterstützung der Sozialversicherung gibt es nur mehr für 26 anstelle für 52 Wochen. In Ungarn trat Anfang 2010 eine Reform des Sozialhilfegesetzes in Kraft, die den Bezug der Leistung, deren Richtsatz pro Person und Monat knapp 150 Euro beträgt, auf nur mehr eine Person pro Familie beschränkt. Für viele Familien fiel damit die Hälfte der bisherigen Bezüge oder sogar noch mehr einfach weg. Mehrere Staaten verfügten drastische Einkommenskürzungen bei den öffentlichen Bediensteten, in Rumänien verloren diese ein Viertel ihrer Bezüge. Lehrer, Ärzte und Sozialarbeiter verdienen mittlerweile nur noch etwa 240 Euro, einfache öffentliche Verwaltungsangestellte 150 Euro im Monat. Die Monatsmiete für eine Zweizimmerwohnung in den großen Städten liegt meist um 150 Euro. Hinzu kommt in manchen Ländern eine verstärkte Hinwendung zur Schaffung von Sicherheitsnetzen nur noch für die Allerärmsten auf der Grundlage von individueller Bedürftigkeit. Oft sind diese an eine Arbeitsverpflichtung im Gemeinwesen gekoppelt. Geläufig sind außerdem Notstandsmaßnahmen im Stil des 19. Jahrhunderts, so etwa ein winterliches Delogierungsmoratorium in Ungarn. Ebenfalls auf dem Vormarsch ist antiliberale und autoritäre Sozialpolitik gegen »Unterschichten«, die nicht selten auf zusätzliche Diskriminierung ethnischer Minderheiten, darunter insbesondere der Roma, hinausläuft oder abzielt.

Bemerkenswert sind Entwicklungen in einigen Staaten, die auf die Rückeroberung staatlicher sozialpolitischer Handlungshoheit hinauslaufen. In Ungarn etwa geschieht dies in Kombination mit autoritärer, gegen die Unterschichten gerichteter Sozialpolitik. Die im April 2010 gewählte rechts-autoritäre Regierung ist dabei, das teilprivatisierte Pensionssystem wieder zu verstaatlichen, um sich auf diese Weise gegenüber der EU budgetpolitische Handlungsspielräume zu verschaffen und die wachsenden Löcher in der staatlichen Rentenkasse zu stopfen. Estland hat bis auf weiteres staatliche Zuflüsse in die privatisierte Pflichtsäule der Rentenversicherung gestoppt. Anderswo sind massive Auseinandersetzungen um staatliche Handlungshoheit zu verzeichnen. In Rumänien und Lettland haben Höchstgerichte die in den Parlamenten bereits beschlossenen Rentenkürzungen für rechtswidrig erklärt und damit gekippt.

Auf Kosten der Peripherie

Die neue Krise seit 2008 gestaltet sich in Osteuropa sozial und sozialpolitisch als fortgesetzte Dauerkrise und als eine im Vergleich mit der westeuropäischen Krise zusätzlich verschärfte Krise. Die soziale Desintegration, die den östlichen Teil unseres Kontinents kennzeichnet, kann nicht unabhängig von dessen untergeordneter Einbeziehung in die politische Ökonomie des poststaatssozialistischen Europa begriffen werden. Wenn überall in Europa die Schaffung von Arbeitsplätzen als Allheilmittel gegen die soziale Krise und die Krise der Sozialsysteme gepriesen wird, dann erscheint dies aus osteuropäischer Sicht besonders zynisch. Denn arbeiten zu gehen, bedeutet für die Menschen der östlichen Hälfte des Kontinents in unvergleichlich geringerem Ausmaß als in den Zentren Europas Existenzsicherung – auf welch geringem Niveau auch immer. Zudem trifft die neue Krise in Osteuropa auf Gesellschaften, wo Mechanismen und Institutionen zur sozialpolitischen Versorgung jener, die vom Verkauf ihrer Arbeitskraft nicht existieren können, zum Teil nur der Form nach existieren, zum Teil einen unvergleichlich geringeren Schutz gegen Folgen der Krise zu bieten haben, als dies in den Zentren Europas der Fall ist. Transnationale Akteure, die Sozialpolitik als transnationale Finanzpolitik betreiben, oder deren sozialpolitische Interessen auf die Minimierung von Sozialpolitik hinauslaufen, haben eine große Rolle dabei gespielt, daß sich die sozialpolitische Landschaft in Osteuropa auf diese Weise entwickelt hat. Und schließlich sind wir keineswegs Zeugen eines in West wie Ost im Prinzip gleichartigen, lediglich dem unterschiedlichen Entwicklungsniveau angepaßten Prozesses unsozialer Krisenbewältigung. Vielmehr findet schon lange zusätzlich eine Auslagerung sozialer Kosten der ökonomischern Entwicklung und von Folgekosten der Dauerkrise und der neuen Krise aus den Zentren an die Peripherien Europas statt. Sozialpolitik in Gesamteuropa ist nicht nur umkämpfte Umverteilung zugunsten von Benachteiligten innerhalb der einzelnen Länder. Sie beinhaltet auch eine innereruopäische sozial­politische ›Arbeitsteilung‹, in deren Rahmen sogenannte soziale Lasten in die Peripherien abgeschoben und so Ausgaben in den Zentren auf Kosten der Peripherien verringert werden.

* Csilla Medve arbeitet in der Sozialverwaltung einer Landeshauptstadt in Ostungarn und ist dort unter anderem für EU-Koordination zuständig

Quelle: http://www.jungewelt.de/2010/12-20/010.php